Lesen lernen per App

Analphabetismus ist eine gesellschaftliche Herausforderung. Eine App zur Leseförderung soll Menschen dabei helfen, ihre Lesefähigkeiten schrittweise zu verbessern und wieder am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.

Die Fähigkeit zu lesen gehört zu den wichtigsten Kompetenzen in unserer Gesellschaft. Ohne eine ausreichende schriftsprachliche Kompetenz ist man in der selbständigen Teilhabe in verschiedenen Lebensbereichen eingeschränkt – so auch im Arbeitsleben: Während rund 12,9% der gering literalisierten Erwachsenen arbeitslos sind, lag Anteil der Arbeitslosen an der Gesamtbevölkerung zur Zeit der Erhebung bei 5,0%.

Aktuell zählen 12,1% der deutschen Erwachsenen im Alter von 18 bis 64 Jahren, also 6,2 Millionen Menschen, zur Gruppe der funktionalen Analphabeten. Dabei handelt es sich um Personen, die trotz Schulbildung keine für die Lebensbewältigung hinreichenden schriftsprachlichen Kompetenzen aufgebaut haben [2]. Zu den 6,2 Millionen funktionalen Analphabeten kommen noch einmal 10,6 Millionen deutsche Erwachsene mit einer auffällig fehlerhaften Rechtschreibung. Die Betroffenen lesen und schreiben auf Satz- und Textebene auch gebräuchliche Wörter nur langsam oder fehlerhaft.

Die hohe Zahl an Betroffenen und die massiven sozialen Folgen von Analphabetismus machen den Bedarf nach effektiven neuen Trainings- und Therapieformen deutlich. Vor diesem Hintergrund liefern mobile Apps interessante Ansätze um ebendiese Menschen beim Erlangen der notwendigen Lesekompetenz zu unterstützen. Im Rahmen eines Studierendenprojekts wurden daher verschiedene Konzepte aus der Leseförderung angeschaut und überprüft, wie sich diese in einer App umsetzen lassen.

Verfahren zur Leseförderung

In der Leseförderung haben sich vor allem zwei Methoden durchgesetzt: Mitlese- und Lautleseverfahren. Bei den Lautleseverfahren liest der Lesende den Text laut vor. Durch das laute Lesen wird die Aufmerksamkeit auf die Korrektheit des Dekodierens und kleine Verstehensleistungen, wie zum Beispiel die richtige Intonation am Satzende, gelenkt. Dadurch wird zum einen die Leseflüssigkeit direkt auf der Prozessebene gefördert und zum anderen indirekt das Textverstehen. Zudem ist durch das unmittelbare Erfolgserlebnis auch eine Steigerung der Lesemotivation und eine positive Auswirkung auf das lesebezogene Selbstkonzepts zu erwarten.

Bei Mitleseverfahren dienen Hörbücher als Lesemodell. Von einem geübten Leser sollen Rhythmus, Intonation und Geschwindigkeit abgeschaut werden. Hierbei wird der Text laut oder leise mitgelesen und anschließend kurze Textabschnitte selbständig wiederholt. Ziel ist es, den Lernenden soweit im Lesefluss zu festigen, dass die Unterstützung nicht mehr benötigt wird und der Text ohne fremde Hilfe sinngestaltend gelesen werden kann. Neben dem besseren Textverständnis, weniger Fehlern und einer Anpassung an Geschwindigkeit und Rhythmus wirkt sich das Mitlesen außerdem positiv auf die Motivation und das lesebezogene Selbstbild des Schülers aus.

Aber nicht nur die Lautung eines Wortes ist für die Lesefähigkeit entscheidend, auch das Erkennen der grammatischen Strukturen trägt zum Textverstehensprozess bei. Hierbei liefert das Prinzip der Stammkonstanzschreibung eine wertvolle Unterstützung für die Lesenden, indem die jeweiligen Wortstämme in allen Umgebungen so ähnlich wie möglich geschrieben werden.

Leseförderung durch App-Unterstützung

Aufbauend auf den drei Methoden zur Leseförderung, schafft die App eine digitale Lernumgebung, die den Nutzer*innen ermöglicht das Lesen mithilfe anerkannter Verfahren selbständig zu trainieren. Gleichzeitig könnte die Anwendung als ergänzendes Instrument im Rahmen einer Therapie zum Einsatz kommen, etwa indem es dem Therapeuten ermöglicht, den Lesefortschritt zu überwachen und für das Kompetenzlevel des Lesers geeignete Texte zur Verfügung zu stellen.

Um den Nutzern die Hürde zum Lesen zu nehmen, ist das Lesetraining in mehrere, unterschiedlich fordernde Trainingsschritte unterteilt, die unabhängig voneinander, oder auch in Folge absolviert werden können. Das Training beginnt mit einer angepassten Version des Mitleseverfahrens. Um das Einspeisen eigener Text zu ermöglichen und so die Lesemotivation zu steigern, wurde das Mitleseverfahren dahingehend abgewandelt, dass anstelle von Hörbüchern eine qualitativ hochwertige synthetisierte Sprachausgabe als Lesemodell dient. Anschließend folgt das Lautlesen. Statt an dieser Stelle das Gelesene durch einen Tutor zu überprüfen, wird der Leser aufgenommen und kann sich anschließend selbständig überprüfen und verbessern. Zusätzlich wird das Lesen durch die App selbst verbessert, indem falsch ausgesprochene Wörter automatisch markiert werden. Durch das Hervorheben der Wortstämme in langen Wörtern und das Trennen zusammengesetzter Wörter, sollen die orthografischen Strukturen hervorgehoben und das Lesen dadurch erleichtert werden.

Umsetzung als Cross-Plattform App

Da die App sowohl auf Android als auch iOS laufen soll, wurde das Cross-Plattform Framework Flutter für die Entwicklung eingesetzt. Flutter wurde von Google als Open-Source Projekt veröffentlicht und basiert auf der ebenfalls von Google entwickelten Programmiersprache Dart.

Für das Vorlesen der Texte nutzt die App die Stimmen von Google Cloud Text-to-Speech Service, da diese relativ menschlich klingen und auch die Prosodie größtenteils stimmt, was für die Mitleseverfahren besonders wichtig ist. Die Google Cloud Stimmen beinhalten unter anderem Stimmen von WaveNet, die natürlicher klingen als herkömmlich generierte synthetische Stimmen. Die WaveNet-Modelle verwenden ein neuronales Netz, das mit zahlreichen von Menschen gesprochenen Audiosamples trainiert wurde und in der Lage ist, die Audiowellenformen von Grund auf neu zu generieren. Dadurch haben die Phoneme, Silben und Wörter der generierten synthetischen Sprache eine menschenähnliche Betonung und einen natürlichen Tonfall.

Das Bavarian Archive for Speech Signals (BAS) bietet mit den BAS WebServices Tools zur Sprachverarbeitung an. Diese beinhalten unter anderem die Konvertierung von Graphemen in Phoneme (G2P), die automatische Segmentierung von Sprachsignalen (MAUS) und die Gliederung der Phoneme in Silben (Pho2Syl). Damit kann – in dieser Reihenfolge auf ein Sprachsignal angewendet – automatisch für jedes Wort festgestellt werden, wo im Signal es gesprochen wurde und zudem die Silbengliederung und Wort- bzw. Silbenlängen ausgegeben werden. Diese Webdienst wird verwendet, um die Aussprache der Nutzer zu korrigieren, die Audiowiedergabe zu steuern und den aktuell vorgelesenen Satz hervorzuheben.

Fazit

Selbst in einem Land mit einem so hohen Alphabetisierungsgrad wie Deutschland gibt es viele Menschen, die nicht ausreichend lesen und schreiben können. Die primären Probleme bestehen in einer fehlenden Einsicht in die sprachsystematischen Eigenschaften des deutschen Schriftsystems und äußern sich durch ein langsames und fehlerhaftes Lesen in Verbindung mit Textverständnisschwierigkeiten. Eine App-basierte Lesetherapie für Jugendliche und Erwachsene kann vor diesem Hintergrund eine wirksame therapeutische Unterstützung bieten und diesen Menschen dabei helfen, ihre Lesefähigkeiten zu verbessern.

 

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Tags: Individualsoftwareentwicklung

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