Wer nach den Begriffen Agile, Lean, Scrum oder UX sucht, findet viel Ärger und Frustration. Designer beklagen das Opfern der Kreativität auf dem Altar der raschen Ergebnisse, während Entwicklungsteams das Design als blockierend empfinden. Abseits von allgemeinen Weisheiten wie "…mache möglichst viel Designarbeit im Sprint…" gibt es scheinbar wenig verwertbare Erfahrung.
Im ersten Meeting, in dem wir die Zusammenarbeit geplant haben, stellte die Designagentur den Prozess vor, nach dem sie das Projekt umsetzen wollten.
Eine erste zeitliche Grobplanung sah vor, für die Define- und Design-Phasen ca. zwei Drittel der verfügbaren Zeit zu verwenden, um dann Entwicklung und Inbetriebnahme im letzten Drittel durchzuführen.
Vom Kunden war gewünscht, den Auftrag nach Scrum zu entwickeln. Scrum [1] verwirklicht das Agile Manifest [2] sowie die damit verbundenen zwölf agilen Prinzipien, und hat das Ziel, rasch, idealerweise mit jedem Sprintergebnis, ein wertvolles Inkrement des Produkts an die Endanwender zu liefern, um damit Erfahrung zu sammeln. Dieses Feedback fließt in die Produktentwicklung ein und erlaubt so eine mögliche Fehlentwicklung rasch erkennen und korrigieren zu können.
Der Product Owner (PO) verwaltet dazu die geplanten Produkteigenschaften im Product Backlog. Gemeinsam mit dem Entwicklungsteam verhandelt er im Sprint Planning den Umfang des nächsten Produktinkrements, als Ausschnitt aus dem Product Backlog, genannt Sprint Backlog. Das Entwicklungsteam setzt diesen während des Sprints um, und demonstriert dem PO das Ergebnis im Sprint Review. Ist der PO damit zufrieden, wird das Inkrement ausgeliefert, um damit Feedback bei den Endanwendern einzuholen.
Schon anhand der kurzen Prozessbeschreibung, bzw. -abbildungen, ist ersichtlich, dass die beiden Zugänge zur Produktentwicklung nicht kompatibel sind. Während die UX-Sichtweise immer das Produkt in seiner Gesamtheit behandeln will, betrachtet das agile Vorgehen nur die nächstwichtigen Eigenschaften. Um möglichst rasch zu einer produktiven Arbeitsweise zu kommen, begannen wir eine Recherche, um herauszufinden, welche Erfahrungen und Lösungsansätzen andere mit agilen Ideen hatten.
Die Daten werden analysiert, und das daraus Gelernte bildet die Basis, um die Idee weiterzuentwickeln.
Klingt wunderbar! Wie in Scrum wird ein Produkt nicht nach einem Phasenmodell, sondern iterativ/inkrementell entwickelt. Beim Versuch die Anwendung von Lean UX im Projektalltag zu skizzieren, stießen wir allerdings schnell auf einige wesentliche Hürden:
Lean UX gibt darauf leider keine Antworten. Der Fokus liegt hier ausschließlich auf UX-Design. Die tatsächliche Produktentwicklung ist als darauffolgende Phase angedacht. Wir sind also keinen Schritt weiter.
Der Begriff Design Thinking [5] wurde in den 90ern von David Kelley und Tim Brown bei IDEO erfunden. Sie kombinierten dazu Ideen und Vorgehensweisen, die in der Branche schon seit Jahren als eigenständige Werkzeuge angewandt wurden, in ein in sich stimmiges Konzept.
Dabei wird in jedem der Diamanten zuerst ein Problemraum eröffnet, um anschließend das Gesammelte zu bewerten und zu entscheiden welche der Ideen weiter ausgearbeitet werden soll.
Darauf aufbauend hat Jake Knapp bei Google Ventures den Design Sprint [6] definiert. Ein Design Sprint versteht sich dabei als Anleitung, wie ein Team von fünf bis sechs Personen in fünf Tagen eine Produktidee zu einem validierten Prototyp ausbauen kann. Für die Durchführung eines Designsprints hat Google das Design Sprint Toolkit [7] als Werkzeugsammlung veröffentlicht.
In fünf Tagen von der Produktidee zum Prototyp? Das klingt doch hinsichtlich Vereinbarkeit mit Scrum schon sehr vielversprechend! Bei genauerer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass auch hier wieder ausschließlich UX Design auf Produktebene betrieben wird, während die tatsächliche Umsetzung der entworfenen Eigenschaften mit keinem Wort angesprochen wird.
Einen wesentlich konkreteren Ansatz beschreibt Desirée Sy 2007 in ihrem Artikel Adapting Usability Investigations for Agile User-Centered Design im Journal of Usability Studies [8] . Im Verlauf des Artikels leitet sie folgendes Modell her, nach dem UX Design und Entwicklung in einem iterativ organisierten Vorgehen parallel bearbeitet werden.
Während das Entwicklungsteam in Cycle/Sprint 0 das Setup der Entwicklungsumgebung vornimmt, beginnt das Design-Team bereits mit den Designarbeiten für die ersten Produkteigenschaften. Zu Beginn von Cycle/Sprint 1 übergibt das Design-Team sein Cycle/Sprint 0 Ergebnis an das Entwicklungsteam, damit dieses die Eigenschaften in das Produkt einbauen können. Während das passiert arbeitet das Design-Team bereits an den nächsten Eigenschaften, um so wieder die Vorgaben für das Entwicklungsteam im folgenden Sprint zu erarbeiten. Während dies in der Theorie sehr vielversprechend klingt, zeigen jedoch zahlreiche Postings, dass sich bei der Anwendung der Vorgehensweise genau die im Diagramm abgebildete Organisation manifestiert. Es bilden sich zwei Teams, die abgesehen von über den Zaun geworfenen Artefakten nicht miteinander kommunizieren. Schwierigkeiten, die beim Verarbeiten der Artefakte auftreten, können frühestens im darauffolgenden Sprint vom jeweils anderen Team bearbeitet werden. Die Durchlaufzeiten verlängern sich so um mindestens zwei Iterationen. All diese Probleme sollten doch eigentlich durch das agile Vorgehen abgeschafft werden. Sind Scrum und UX tatsächlich nicht vereinbar?
Jede der recherchierten Vorgehensweisen bringt uns einem einsatzbaren Vorgehen einen Schritt näher. Bevor wir uns an die Lösung des scheinbaren Gordischen Knotens machen, sollten wir aber nochmal rekapitulieren, woran die Anwendung der genannten Methoden in einem nach Scrum organisierten Entwicklungsteam jeweils gescheitert sind:
Die Latte liegt hoch, aber die einfachen Probleme wurden eben schon alle gelöst. Wie zerschlagen wir nun den Gordischen Knoten des integrierten Design- und Entwicklungsprozesses unter den oben genannten Rahmenbedingungen?
Wird das Produkt um eine gänzliche neue Eigenschaft erweitert, wird zur Sprintmitte ein Refinement-Meeting angesetzt. Dieses nutzen wir, um die neuen Eigenschaften zu definieren. Dies passiert unter Mitwirkung aller an der Produktentwicklung beteiligten Rollen (Fachexperten, Endanwender, sowie das Scrum-Team bestehend aus Designer, Entwickler, Product Owner) in Form eines eintägigen Design-Sprints. Die Verkürzung auf einen Tag ist möglich, da wir entsprechend des iterativ-inkrementellen Vorgehens nur die nächst wichtigen Produkteigenschaft betrachten.
Im Sprint Planning sowie Sprint Review nehmen die gleichen Personen teil, die auch im Refinement beteiligt waren. Üblicherweise entstehen an einem solchen Refinement-Tag mehr Backlog Items als vom Entwicklungsteam in einem Sprint umgesetzt werden können. Im Planning muss daher die Priorisierung stattfinden, bei der Bedürfnisse der Endanwender gleichermaßen berücksichtigt werden müssen wie die der Business Agility. Im Sprint Review schließlich haben die Endanwender und Fachexperten/PO die Möglichkeit (und die Verantwortung!) sofort Feedback zum Sprintergebnis zu geben.
Die Beteiligung aller vom Produkt betroffenen Rollen hat mehrere Effekte:
Rückblickend betrachtet stellt sich die Frage, warum der Post so lang ist. Die Lösung ist doch recht einfach. Keep it simple, stupid sagen sinngemäß auch schon die agilen Prinzipien.
Wie können Sie agile Methoden in Ihrer Organisation umsetzen, damit sie einen echten Mehrwert liefern? Erfahren Sie, wie wir Sie unterstützen können:
[1] Scrum, https://www.scrumguides.org/
[2] Agiles Manifest, https://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html
[3] Lean UX, https://www.jeffgothelf.com/lean-ux-book/
[4] Lean Startup, http://theleanstartup.com/
[5] Design Thinking, https://designthinking.ideo.com/
[6] Design Sprint, https://www.design-sprint.com/en/design-sprint-day-by-day/
[7] Design Sprint Toolkit, https://designsprintkit.withgoogle.com/
[8] Agile UX, http://uxpajournal.org/adapting-usability-investigations-for-agile-user-centered-design/
[9] Kaizen: Die 7 Arten der Verschwendung (Muda), https://de.wikipedia.org/wiki/Kaizen#Die_Sieben_Muda