Der Schlüssel zu einer neuen Form der Schmerztherapie liegt in der kontinuierlichen Überwachung des Blutdrucks. Aber gängige Verfahren sind aufwendig und für den Einsatz außerhalb von Kliniken oft auch zu teuer.
In Zusammenarbeit mit der Universität Marburg hat das iteratec Studierendenlabor (SLAB) daher Methoden erforscht, um mit handelsüblichen Geräten eine kostengünstige Messmethohe für non-invasive, kontinuierliche Blutdruckbestimmung zu verwirklichen. Die so entstandene Lösung bietet großes Potenzial für weitere Anwendungsfelder.
Fibromyalgie ist eine chronische Schmerzerkrankung, bei der die Betroffenen unter wiederkehrende Schmerzen an Muskeln und Sehnen leiden. Zumeist treten die ersten Symptome ab dem 35. Lebensjahr auf und verstärken sich anschließend. Erfolge durch Therapieversuche gestalteten sich bisher schwierig. Ein neues, von der Universität Marburg entwickeltes Behandlungsverfahren [24] soll das ändern. Zentrale Voraussetzung für die Therapie ist dabei eine kontinuierliche Überwachung des Blutdrucks.
Derzeit existieren zwei Methoden zur Blutdruckmessung: invasiv und kontinuierlich über einen arteriellen Zugang oder non-invasiv und nicht-kontinuierlich über eine Blutdruckmanschette. Arterielle Zugänge können nur im klinischen Kontext verwendet werden. Da die neue Behandlungsmethode aber auch externen Therapeuten zur Verfügung gestellt werden soll, bedarf es einer nicht-invasiven Methode, die in der Lage ist, kontinuierlich den Blutdruck zu ermitteln. Ein Ansatz ist es hierfür PPG Wellen zu verwenden. Diese können von gewöhnlichen Pulsmessgeräten erfasst werden, die z.B. am Finger oder Handgelenk getragen werden.
PPG steht für Photoplethysmographie, eine optische Methode, die mit Hilfe von Infrarotlicht Änderungen des Blutvolumens misst. Dies geschieht durch die Messung der Lichtmenge, die von Blutgefäßen in lebendem Gewebe absorbiert oder reflektiert wird [8]. Der rote Blutfarbstoff, Hämoglobin, absorbiert Infrarotlicht wesentlich stärker als das umgebende Gewebe. Nimmt die Blutmenge ab, wird die Absorption geringer und die Reflexion höher [22]. Die Messung findet in der Regel auf der Hautoberfläche statt und ist daher nicht-invasiv. Die PPG-Messung hat die Form einer Welle, wie in Abbildung 1 dargestellt.
Abbildung 1: PPG Wellen
Die Idee unseres Projekts besteht darin, eine Flutter App zu implementieren, die den aktuellen Blutdruck anzeigt. Dafür verwenden wir einen O2Ring, der die PPG Wellen aufzeichnet. Diese Daten können dann über Bluetooth LE empfangen werden. Anschließend wird mithilfe eines Algorithmus aus diesen PPG Daten der Blutdruck berechnet. Eine einmalige Kalibrierung des Blutdrucks mithilfe einer Blutdruckmanschette ist dafür nötig. Dieser Ablauf ist in Abbildung 2 dargestellt.
Abbildung 2: Schritte zur Berechnung eines Blutdruckwertes
Der Wellue O2Ring [4] ist ein Pulsoximeter, das von der chinesischen Healthtech Firma Shenzhen Viatom Technology entwickelt wurde [5]. Der Ring kann an den Finger gesteckt werden und misst die Sauerstoffsättigung im Blut sowie den Puls. Dabei werden auch PPG Wellen aufgezeichnet, auf die mithilfe von Bluetooth LE zugegriffen werden kann.
Abbildung 3: Der Wellue O2 Ring
Aus der PPG-Kurve lassen sich mehrere Parameter extrahieren, die dann zur Schätzung des Blutdrucks verwendet werden können (10). Im Folgenden werden verschiedene Methoden zur Berechnung dieser Parameter vorgestellt:
Pulse Transit Time
Als Pulse Transit Time (PPT) wird die Zeit bezeichnet, die ein vom Herzen ausgehender Puls benötigt, um einen peripheren Punkt des Körpers zu erreichen. Es wird eine umgekehrt proportionale Beziehung zwischen PTT und Blutdruck angenommen (10). Wenn die PTT kürzer ist, zeigt dies einen höheren Blutdruck an, während eine längere PTT auf einen niedrigeren Blutdruck hinweist [9]. Der Nachteil dieser Methode ist, dass zwei Sensoren benötigt werden, typischerweise ein Elektrokardiogramm (EKG) am Herzen und ein PPG an einer peripheren Körperstelle. Dies macht die Anwendung für den Nutzer komplizierter. Zudem müssen beide Signale aufgezeichnet, verarbeitet und analysiert werden. Ein weiteres Problem ist, dass die PTT-Parameter nach einiger Zeit ablaufen, wodurch sich die Berechnungsgenauigkeit verschlechtert [10].
Pulse Wave Velocity
Pulse Wave Velocity (PWV) beschreibt die Geschwindigkeit der Druckwellenausbreitung in den Blutgefäßen. Sie wird insbesondere durch die Elastizität der Arterien bestimmt. Durch die Beziehung zwischen Blutdruck und Gefäßelastizität kann so der Blutdruck berechnet werden. Bei dieser Methode werden zwei PPG Sensoren benötigt, die auf dem gleichen arteriellen Zweig liegen. Ein weiterer Nachteil dieser Methode ist, dass eine Kalibrierung in regelmäßigen Zeitintervallen notwendig ist [10].
Pulse Wave Analysis
Ein großer Vorteil der Pulse Wave Analysis Methode ist, dass nur das PPG Signale verwendet wird. Dadurch wird nur ein Sensor benötigt, was die Anwendung deutlich vereinfacht. Bei der Pulse Wave Analysis wird die Morphologie des PPG Signals analysiert und bestimmte charakteristische Merkmale aus der Wellenform berechnet [9][10]. Die Nachteile bei diesem Ansatz sind, dass das PPG Signal anfällig für Störung durch Bewegung ist und die Beziehung zwischen dem Blutdruck und der PPG-Wellenform noch nicht vollständig verstanden ist [10].
Wir haben uns für die Verwendung der Pulse Wave Analysis Methode entschieden, da der Nutzer hier nur einen Sensor benötigt und somit auch nur ein Signal aufgezeichnet, verarbeitet und analysiert werden muss. Obwohl der Ursprung der PPG-Komponenten noch nicht vollständig verstanden ist, kann die PPG-Kurve Informationen über das kardiovaskuläre System liefern. Zudem wird bei diesem Ansatz keine regelmäßige Neukalibrierung benötigt. Aus diesen Gründen ist diese Methode auch in der Forschung ein immer beliebterer Ansatz [10].
Für die Berechnung des Blutdrucks müssen verschiedene Schritte erfolgen, welche in Abbildung 4 zu sehen sind. Zunächst müssen PPG Daten gesammelt und vorverarbeitet werden. Anschließend können auf Basis dieser Daten dann Schlüsselpunkte berechnet werden, die wiederum genutzt werden, um bestimmte Features zu ermitteln. Am Ende werden diese Features und ein initialer Blutdruckwert verwendet, um den Blutdruck zu berechnen.
Für diese Berechnungen haben wir einen eigenen kleinen Datensatz mithilfe des O2Rings generiert. Da es in Python wesentlich mehr mathematische Bibliotheken gibt als in Dart, der Programmiersprache von Flutter, haben wir uns dazu entschieden, den ersten Versuch der Entwicklung eines Algorithmus in Python zu implementieren. Hierfür haben wir unter anderem das heartpy package verwendet [17].
Abbildung 4: Verlauf der Blutdruckbestimmung
Bevor man auf den Daten Berechnungen durchführen kann, müssen sie erst vorverarbeitet, also in eine Form gebracht werden, in der die gewünschten Berechnungen auf ihnen korrekt durchgeführt werden können. Dabei werden die Daten mit Hilfe eines lowpass butterworth Filters mit einer cutoff Frequenz von 10 gefiltert. Dieser Filter schneidet alle Frequenzen größer oder gleich 10 Hz heraus, wodurch das Rauschen im Signal reduziert wird. Da die Samplingrate des Rings nur 125 Hz beträgt werden die Daten auf 500 Hz upgesampelt. Anschließend werden die Tiefpunkte zwischen den Wellen ermittelt und die Daten in einzelne Wellen aufgeteilt. Die maximale Amplitude der Wellen wird auf eins normalisiert. Im folgenden Abschnitt werden die Auswirkungen dieser vier Vorverarbeitungsschritte visualisiert.
Schritt 1: Filter
Vorher |
Nachher Durch den Filter wird das Rauschen reduziert und die Kurve geglättet. |
Schritt 2: Upsampling
Vorher
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Nachher Das Hinzufügen zusätzlicher Datenpunkte erhöht die Erkennungsgenauigkeit der Schlüsselpunkte. |
Schritt 3: Trennung in einzelne Wellen
Vorher |
Nachher Durch das Aufteilen in einzelne Wellen können die Schlüsselpunkte und Features für jede Welle berechnet werden. |
Schritt 4: Normalisierung der Amplitude
Vorher
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Nachher Durch die Normalisierung haben alle Wellen die gleiche Amplitude. |
Nachdem die Daten in die richtige Form gebracht wurden, können die fünf Schlüsselpunkte der PPG-Kurve bestimmt werden, die für die spätere Berechnung der Features notwendig sind. Die Schlüsselpunkte werden zum Teil mit Hilfe der ersten und zweiten Ableitung ermittelt.
Die fünf Schlüsselpunkte sind in Abbildung 5 markiert. Der Maximum Slope Point markiert den steilsten Anstieg der systolischen Phase. Der systolische Peak ist der höchste Punkt der systolischen Phase und resultiert aus dem Blut, das vom Herzen weggedrückt wird. Der diastolische Peak hingegen resultiert aus dem Blut, welches von der Peripherie wieder Richtung Herz fließt. Dieser ist oftmals sehr schwer zu erkennen [9]. Die dikrotische Kerbe (dicrotic notch) ist ein charakteristisches Merkmal der PPG Kurve und markiert das Ende der systolischen und den Beginn der diastolischen Phase [15]. Der Wendepunkt (inflection point) markiert den Beginn des Anstiegs der reflektierten Druckwelle [16].
Abbildung 5: Schlüsselpunkte und Phasen der PPG Kurve.
Anhand dieser fünf Schlüsselpunkten lassen sich anschließend verschiedene Features berechnen. Wir haben uns für die folgenden Neun entschieden, da sie häufig in der Literatur vorkommen und eine Kombination aus Zeit-, Amplituden- und Flächen-Features sind. Diese Merkmale könnten noch durch Weitere ergänzt werden. Die folgenden Features sind zum Teil in der Abbildung 6 eingezeichnet.
Abbildung 6: Features der PPG Kurve
Unser erster Versuch der Implementierung eines Algorithmus, der aus einem Teil dieser Features einen Blutdruckwert berechnet, konnte mittels frei zugänglicher Informationen aus dem Patent WO2016138965 ermittelt werden [18]. Hierfür werden mindestens ein zeitbezogenes Feature und mindestens ein normalisiertes amplitudenbezogenes Feature benötigt. Für die zeitbezogenen Features haben wir T13, die diastolische Zeit TD und die Breite des Pulses gewählt. Für die normalisierten amplitudenbezogenen Features haben wir den Reflektion Index und den normalisierten Auswurfbereich gewählt. Optional können auch Nutzer Features berücksichtigt werden. Hier haben wir uns für das Alter und die Größe entschieden. Die Formel, die das Patent vorschlägt, ist in Abbildung 7 zu sehen. Es gibt drei lineare Merkmalskoeffizienten kt, ka und ku durch die, die Features relativ zueinander gewichtet werden. Diese Merkmalskoeffizienten können auf unterschiedliche Weise bestimmt werden. Wir haben uns dazu entschieden, die Werte durch einen Kalibrierungsprozess zu berechnen. Dafür müssen PPG Daten vom Nutzer aufgezeichnet werden. Zudem wird der Blutdruck mit Hilfe einer Blutdruckmanschette bestimmt. Für die einzelnen Features wird dann der Mittelwert bestimmt, um eventuelle Fehler in der Datenaufzeichnung und der Feature Berechnung herauszumitteln. Die Formel zur Berechnung des Blutdrucks hat am Ende sieben Merkmalskoeffizienten. Drei für die zeitbezogenen Features, zwei für normalisierten amplitudenbezogenen Features und zwei für die Nutzer Features. Diese Koeffizienten werden dann berechnet, indem der gemessene Blutdruckwert als Kalibrierungsblutdruck gesetzt wird und der Fehler mit Hilfe des least squares Optimizers minimiert wird. Dies muss zweimal durchgeführt werden, einmal für den systolischen und einmal für den diastolischen Blutdruck. Mit Hilfe der resultierenden Koeffizienten ergibt sich dann die Formel zur Berechnung des Blutdrucks.
Diese Formel ist jedoch nicht allgemein gültig, sondern speziell auf den aktuellen Nutzer kalibriert. Werden jetzt neue PPG Wellen aufgezeichnet lässt sich mit dieser Formel der Blutdruck des Nutzers bestimmen. Wir konnten feststellen, dass die Formel realistische Blutdruckwerte liefert aber die Werte noch sehr ungenau sind. Dies könnten an unsauberen Daten und daraus resultierenden fehlerhaften Berechnung der Feature Werte oder der falschen Auswahl an Features liegen. Um hier noch genauere Werte erzielen zu können sind weitere Untersuchungen mit unterschiedlichen Probanden notwendig.
Ein nächster Schritt wäre, diesen Algorithmus so zu verallgemeinern, dass er auf verschiedene Nutzer anwendbar ist, und ihn so zu verbessern, dass der Fehler zwischen berechnetem und tatsächlichem Blutdruck möglichst gering ist. Um ein Verfahren mit anderen vergleichen zu können, hat die British Hypertension Society und die AAMI Richtlinien entwickelt. Diese beschreiben, wie weit der berechnete Blutdruck von einem Referenzblutdruck abweichen darf [23]. Die aktuelle Literatur zeigt, dass insbesondere maschinelle Lernansätze gute Ergebnisse erzielen. Es hat sich gezeigt, dass lineare Modelle gute Ergebnisse auf Datensätzen von gesunden Personen liefern können, aber ungenaue Werte liefern, wenn sie auf anderen Datensätzen verwendet werden. Aus diesem Grund wurden auch viele nicht lineare Modelle wie beispielweise Random Forest und Feedforward Neural Network verwendet. In den meisten Fällen lieferten die nicht linearen Modelle bessere Ergebnisse. Fortgeschrittenere Methoden wie rekurrente Neuronale Netze und LSTMs sind vielversprechend, da sie in der Lage sind, die zeitliche Komponente ebenfalls zu berücksichtigen [10].
Für alle diese Methoden werden sehr viele Daten benötigt und man benötigt sowohl die PPG Welle als auch die dazugehörigen Blutdruckwerte. Bei unserer Recherche haben wir drei mögliche, frei zugängliche Datensätze gefunden [19, 20, 21]. Optimal für uns wäre ein Datensatz, der mit dem O2Ring erstellt wurde. Die Features, die auf diesem Datensatz berechnet werden, dienen dann als Input für ein Machine-Learning-Modell oder ein Neuronales Netz [10]. Um hier optimale Ergebnisse zu erzielen, könnten weitere Features hinzugefügt oder nur die informativsten Features zur Vorhersage verwendet werden.
Eines der derzeit größten Probleme bei der Implementierung besteht darin, dass die Berechnungen auf unsauberen Daten oft fehlerhaft sind. Dies liegt zum Teil daran, dass die Wellen nicht richtig in einzelne Wellen unterteilt werden oder sehr unsaubere Wellen nicht aus der Berechnung ausgeschlossen werden, was zu fehlerhaften Werten für die Features führen kann. Dies könnte durch einen anderen Algorithmus oder durch den Einsatz von maschinellem Lernen verbessert werden. Ziel ist es, eine Methode zu entwickeln, die verlässliche Ergebnisse liefert und diese dann in einer Anwenderstudie zu verifizieren.
Der Source-Code der bisherigen Entwicklung ist einsehbar unter https://github.com/iteratec/ppg-blood-pressure-prediction.
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